Siedlung Wachlehen, 1991, © Stadtarchiv Miesbach
Wachlehen, Zeichnung von Hans Eckert, © Stadtarchiv Miesbach

Unser Stadtteil Wachlehen

Hoch über dem Mangfalltal liegt in sonniger Lage der Miesbacher Stadtteil Wachlehen. Ein Idyll mit besonderer Vergangenheit.

 

Siedlung mit Seele

Wer zum ersten Mal nach Wachlehen kommt, wundert sich: Denn die Ansiedlung, die so geborgen inmitten weiter Wiesen liegt, scheint aus einer einzigen Straße zu bestehen. Tatsächlich ist die Neureuthstraße, verschlungen und verästelt, die Lebensader dieser Siedlung. Wer genau hinsieht, erkennt, dass die meisten Häuser im selben Stil gebaut sind. Und tatsächlich schoss Wachlehen in den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in wenigen Jahren aus dem Boden – also etwa zu der Zeit, in der am Stadtrand von Miesbach die neuen Siedlungen „Auf der Grün“ oder die „Bossertblöcke“ entstanden. Doch Wachlehen hat einen völlig anderen Ursprung und das macht die Seele dieser blumenreichen Garten-Siedlung aus.

 

Papierfabriken schaffen Arbeit

Denn wenn man den steil-kurvigen „Baamer Berg“ hinunterfährt, liegt rechter Hand „Müller am Baum“. Die Gebäude, die heute so verlassen wirken, waren bis vor gar nicht allzu langer Zeit voller Leben: Betriebsam ging es hier zu, war doch die Papierfabrik – von deren ehemaliger Bedeutung noch der Schornstein kündet –, einmal einer der größten Arbeitgeber im Stadtgebiet. Dabei war die PWA (Papierwerke Waldhof-Aschaffenburg) nur eine von drei Papierfabriken rund um Miesbach: Die 1931 geschlossene Papierfabrik „Neumühle“, die weiter Mangfall abwärts lag, gehörte der Stadt München. Die weiter flussauf gelegene Fabrik – wie Müller am Baum eine Gründung von Karl Friedrich Haug (1838-1908) – existiert noch heute mit den Standorten Gmund und Louisenthal.

 

Keine Fabrik wie jede andere

Hört man denen zu, die Müller am Baum noch in der aktiven Zeit erlebten, sind sich alle einig: „Der Betrieb war sehr sozial“ oder „Wir waren wie eine große Familie“ und „Der Direktor war ein feiner Mann, der hat sich gut um die Arbeiter gekümmert“. Doch das Unternehmen war nicht nur ein wichtiger Arbeitgeber und ein sozialer noch dazu: Die Papierfabrik war ein florierendes Unternehmen mit hohem Umsatz, das Papier nach Deutschland und ganz Europa lieferte. Aus den Unterlagen der Stadt Miesbach ist z.B. ersichtlich, dass es schon 1956 Vorgespräche zwischen der PWA und der Stadt Miesbach gab. Die PWA, namentlich Dr. Hopf, hatte damals neben dem Architekten Max Butscher (Rosenheim) mehrere leitende Angestellte in die Verhandlungen entsandt: Herrn Dr. Kosney sowie die Herren Reigl und Prestele.

 

Wohnraum für die Belegschaft

Da die Fabrik ihre besten Zeiten nach 1950 erlebte und damals bis zu 200 Männern und Frauen in den Bereichen Produktion, Auslieferung und Büro sichere Arbeit und guten Lohn bot, wurde die Frage nach Wohnmöglichkeiten immer dringender, hatte die Belegschaft doch teils sehr lange Arbeitswege. Von so manchem Arbeiter wissen wir sicher, dass er mit dem Fahrrad aus Weyarn kam. Und das täglich bei Wind und Wetter. Was das in den schneereichen Wintern des letzten Jahrhunderts bedeutetet hat, kann man sich gut ausmalen. Vor allem muss man dabei bedenken, dass Papierfabriken schon damals im Drei-Schicht-Betrieb geführt wurden. Heute beginnt die erste Schicht vielerorts um 3:00 Uhr morgens – die dritte Schicht endet um diese Zeit. All dies kam zwischen Stadt und Papierfabrik zu Wort und auch die Regierung von Oberbayern wurde eingeschaltet, um das Siedlungsprojekt zu ermöglichen und aus Bauernland Baugrund zu machen.

 

Baugrund zu verkaufen

Früh schon hatte sich die PWA mit Kaspar Schöpfer geeinigt und Grund erworben, auf dem der erste Bauanschnitt entstand. So kaufte die PWA in Wachlehen zunächst einen Streifen Land, der an der heutigen Bundesstraße lag. Doch Kaspar Schöpfer war nicht der Einzige, der Land zu verkaufen hatte. Auch der Baumgartnerhof, der zu dieser Zeit im Besitz der Familie Brunnhuber war, ging neuen Zeiten entgegen. Zum Land kamen noch die Metzgerei und das Gasthaus „Müller am Baum“. Doch die letzten Besitzer fühlten wenig Neigung zur Landwirtschaft. Flüchtlingsfamilien, die vorübergehend auf dem Baumgartnerhof untergebracht waren, erinnern sich noch, dass der Hof zum Gestüt umgebaut wurde. „Da ging es hoch her“, fasst eine ältere Wachlehnerin den Umbruch auf dem Baumgartnerhof zusammen. Die wenigen Worte zeichnen ein treffendes Bild vom damaligen Lebensstil vieler Landwirte, die in den beginnenden 60er-Jahren durch den Verkauf von Land zu Geld gekommen waren. „Als die PWA wegen Baugrund bei ihm anklopfte, hat er nicht mehr lange überlegt.“

 

Auf ins neue Dasein

Noch heute macht es Freude zu hören, wie sehr sich die Familien über diese Eigenheime freuten. Einige der Baupioniere in Wachlehen waren um das Kriegsende vertrieben worden, stammten aus dem Sudetenland und nutzen nun die Chance, in der neuen Heimat Miesbach wieder Besitz aufzubauen. Wer den Lastenausgleich gespart hatte, war jetzt gut dran. Denn trotz der Unterstützung der Fabrik, die über die Betriebskrankenkasse einen günstigen Zins anbot, musste Eigenkapital nachgewiesen werden. Bei den Doppelhäusern sollten die Erstbesitzer 15.000 DM der Kaufsumme von 80.000 DM selbst aufbringen.

Die Kinder der Erstbesitzer, heute schon im guten Rentenalter, erinnern sich noch gut an diese Zeit: „Der Papa hat als einer der Ersten ein Stück Land oben in Wachlehen gekauft und dann ging das Bauen los.“

In der ersten Phase entstanden nicht nur neun Einfamilienhäuser, errichtet von der Miesbacher Baufirma Kopp, auch die Infrastruktur wurde geschaffen: „Bis die ersten Häuser kamen, war da nur Wiese. Mit den Häusern kamen die Straße und später die Kanalisation“, erinnern sich ehemalige Bewohner des Bucherhofes, der im Osten von Wachlehen liegt. Mit viel Eigenarbeit wurden die ersten Häuser in Wachlehen gerade zu Weihnachten 1960 fertiggestellt. „Ich habe mich so gefreut“, weiß noch ein Wachlehner, der damals 15 Jahre alt war, „endlich hatten mein Bruder und ich ein eigenes Zimmer.“

 

Bauabschnitt 2

Was heute für die meisten Kinder und Jugendlichen fast selbstverständlich ist, war damals der pure Luxus. Auch die Grundstückgröße ist mit 1500 m² gut bemessen. „Wenn man bedenkt, dass der Quadratmeter damals 85 Pfennig gekostet hat, ist das fast ein Spottpreis“, berichtet eine Wachlehnerin. Setzt man das allerdings in Relation zum Lohnniveau der Zeit, passt das Verhältnis wieder: „53 Pfenning habe ich als Anfänger in der Stunde erhalten“, erzählt ein ehemaliger Arbeiter. 1965 folgte dann als zweiter Schritt des ersten Bauabschnitts die Errichtung der Doppelhäuser. Erst zehn Jahre später wurde dann im letzten Schritt unter der Regie der PWA die Siedlung weiter Richtung Wald ausgebaut. Dieser Bereich in Wachlehen wurde nötig, weil die Schließung des Bergwerks in Marienstein viele Familien arbeitslos gemacht hatte. Wer von ihnen Arbeit in Müller am Baum fand, durfte sich glücklich schätzen und konnte die erhaltene Abfindung gleich gut anlegen.

 

Kindheit in Wachlehen

Die Erwachsenen orientierten sich nicht nach Miesbach, sondern nach Müller am Baum. Denn neben der Gastwirtschaft und der Metzgerei gab es nicht nur einen Friseur und eine Trachtenschneiderin, sondern vor allem den Konsum, in dem man alles kaufen konnte, was man so brauchte. Doch die Kinder haben Wachlehen ganz intensiv erlebt. „Bub, du musst jetzt ins Bett, die Kohlewagerl schlafen schon“, mahnte damals eine Mutter ihren Sohn. Eine Episode, die zeigt, wie liebevoll und gemütlich es im Wachlehen der 1960er-Jahre zuging. Denn die kleinen Wagen der einstigen Kohlebahn transportieren noch bis in die 1960er-Jahre Papier von Müller am Baum zur Berghalde, wo die Güter auf den Zug verladen wurden. Für die Kinder war das neue Zuhause in Wachlehen so frei und schön, wie man sich das heute kaum noch vorstellen kann. „Am Baamer Berg ließ es sich herrlich Schlittenfahren… am zugefrorenen Kanal sind wir Schlittschuh gefahren und im Sommer haben wir in der Kanalkurve gebadet.“ Nicht ganz so schön war es in die Schule zu kommen: „Im Winter und wenn es geregnet hat, waren wir oft pitschnass“, weiß eine Wachlehnerin noch, „das war nicht lustig, wenn man den Bus verpasst hat.“ Der fuhr ab 1960/62 bis Miesbach.

 

Jugendliche Kümmernisse

Bis sie den Führerschein hatten, mussten die Jugendlichen also immer die Uhr im Blick haben, wenn sie einmal in Miesbach waren: „Der letzte Bus ging um halb sechs. Da war es dann oft dunkel und der Weg ging an dichten Hecken vorbei – das war schon unheimlich.“ So manch(e)r musste sich für den Heimweg in der „Genickschussbar“ Mut antrinken! Kein Wunder, dass die Jugend gerne nach Wall ging. Dort war die Kirche, die Bäckerei, das Gasthaus Mehringer und viele Veranstaltungen. Auch die „Post“ in Wiessee und ihre Tanzveranstaltungen übten eine große Anziehungskraft aus.

 

Mehr als ein Garten

Da viele Familien schon daheim im Sudetenland in ihren Gärten Gemüse angebaut hatten, war die Selbstversorgung im sorgsam gepflegten eigenen Garten für die „Pioniere“ in Wachlehen von Anfang an mehr als ein Hobby. Kein Wunder, dass der Siedlerverein bis heute ganz selbstverständlich zum Leben in Wachlehen gehört: „Ich glaube, dass in Wachlehen noch immer 95% von uns im Siedlerverein sind“, überlegt ein Wachlehner. „Wenn Siedlerfest ist, werden Kuchen gebacken und gespendet.“ Dann sitzen vor allem die alten Wachlehnerinnen und Wachlehner zusammen und bedenken, was die vergangenen 60 Jahre so alles gebracht haben: Viele Häuser sind verkauft – vor allem in den später errichteten Bungalows herrscht reger Besitzerwechsel. Doch es gibt auch andere Geschichten, so ist eine Wachlenerin erst jüngst nach vierzig Jahren in der Ferne wieder heimgekommen. Wie gut der Zusammenhalt noch immer ist, zeigt auch dies: Nennt man einen Namen, so heißt es in Wachlehen: „Ach ja, die wohnen in Haus Nummer XY.“

 

Text: Verena Wolf
Fotos: Archiv der Stadt Miesbach

Impressionen

Siedlung Wachlehen und Müller am Baum, 1983, © Stadtarchiv Miesbach
Siedlung Wachlehen und Müller am Baum, 1983

© Stadtarchiv Miesbach

Siedlung Wachlehen, 1991, © Stadtarchiv Miesbach
Siedlung Wachlehen, 1991

© Stadtarchiv Miesbach

Wachlehen, Zeichnung von Hans Eckert, © Stadtarchiv Miesbach
Wachlehen, Zeichnung von Hans Eckert

© Stadtarchiv Miesbach