lichthof, © w.marin
portrait, © w.marin

Die vielen Leben des w.marin

Der überzeugte Wahlmiesbacher und Bildkünstler w.marin scheint sich seit jeher in der Rolle des Spurwechslers nicht nur wohl zu fühlen – seine vielen Fähigkeiten und Leidenschaften bilden die Basis für künstlerisches Schaffen, das in Vielfältigkeit seinesgleichen sucht. Die derzeitige Ausstellung "in der bilderbucht" im Kulturzentrum Waitzinger Keller gibt Anlass, den Künstler selbst ein wenig besser zu beleuchten. Denn seit 25 Jahren ist er vielen SchülerInnen und Studierenden eher in seiner Rolle als Lehrer bekannt.

 

Aber zunächst zurück zu den Anfängen. Der gebürtige Augsburger des Jahrgangs 1958 entdeckt schon in der Schulzeit die Liebe zur Lyrik – eine Liebe fürs Leben, wie es aussieht. Sein Studium an den Universitäten in Augsburg und Erlangen führen ihn in die Germanistik und Romanistik. Es folgt die Lehrtätigkeit an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen und an der Universität des Saarlandes in den Fachgebieten Romanistik und Italianistik. Schon früh veröffentlicht er regelmäßig im Magazin "Sprachlos – Zeitschrift für Sprache und Kunst". Anfang der 1990er Jahre erscheint sein Gedichtband Sammlung. Der Stuhl. Das Auge. Die Arbeiten entstehen im folgenden Jahrzehnt unter dem Namen Paul Adam und stehen unter dem Motto "les mots infinis". Aber auch Worte ohne Ende halten den jungen Kunstinteressierten keineswegs zurück von der Erforschung weiterer Kunstsparten. Mit Freunden und Gleichgesinnten aller Kunstsparten gründet w.marin die Gruppe Liga, deren Kernaufgabe die Vernetzung, Unterstützung und auch Vergabe von Kleinstipendien an Künstlerkollegen ist.

Der Wunsch nach Selbstständigkeit lässt w.marin die Lehrtätigkeit an der Universität aufgeben, es folgt eine Zeit des schriftstellerischen Schaffens und der Übersetzertätigkeit für italienische und französische Lyrik. Danach das Staatsexamen, das ihn später zur Lehrertätigkeit an der BOS in Miesbach führte. Ein Glücksfall, wie er meint.

 

Wegbereiter – Wegbegleiter

Als große Einflüsse auf das eigene kreative Schaffen nennt w.marin die Surrealisten, die mit traditionellen Ansichten der Kunst brachen, das moderne Leben als Teil der Kunst betrachteten und besonderes Augenmerk auf das Unbewusste legten. Das damalige Kunstbild änderte sich radikal, man suchte den Zusammenhang und die Untrennbarkeit von Theater – Literatur – Leben – Malerei. Kunst müsse raus aus den Museen. Im Dunstkreis der Pariser Kunstszene um Künstler wie Max Ernst, Pablo Picasso, Salvador Dalí und ihrem kunstphilosophischen Gedankengut fällt w.marins Augenmerk im Besonderen auf den französischen Lyriker Paul Éluard. Ein großer Teil der Gedichte von Éluard bezögen sich auf die Werke seiner Malerfreunde, sagt w.marin, und diese Art Schaffens- und Lebensästhetik betrachte er auch für sein eigenes Leben als sinnstiftend. Das Flanieren sei von den Surrealisten als kreativer Prozess zur Erweiterung der Wahrnehmung kultiviert worden. Der Schritt vom Lyriker Paul Adam zu w.marin, dem "Bildermann", wie er sich selbst nennt, war damit schon fast getan: Flanieren mit der Kamera. Der andere Blick. Der Blick durch den Sucher, der die Wahrnehmung der Umgebung verändert, sie transformiert.

In den fotografischen Arbeiten der Ausstellung im Kulturzentrum Waitzinger Keller steht genau dies im Zentrum: die Transformation. Eine Suche nach dem Bild, das nicht nur Abbild ist. Eine Suche eher nach der Idee, dem Charakter eines Gegenstandes oder Sujets. Eine weitere Transformation durch die Zusammenstellung von Fotografien in eine Reihe, wodurch sie eine neue Gestalt entwickeln. Und nicht zuletzt die erneute Verwandlung durch die Gedanken der Betrachter. Besonders offenkundig ist dies in der Serie "silent places", die als Zeitdokument in der Coronapandemie entstand. Menschenleere Museumsräume, Schwimmbadansichten oder Brückenbauten, deren fast hörbare Stille jenseits der ursprünglichen Funktion des Ortes eine neue Selbstgenügsamkeit und berückende Schönheit heraufbeschwört.

Auch in der Serie "graffitys" treten Verwandlungen und Zusammenhänge mit kunstübergreifendem Handeln zutage. Die Brücke, die w.marin über seine Fotografien von den Höhlenmalern in Lascaux zum modernen Graffitysprayer schlägt, ist nachvollziehbar und gänzlich von Respekt und wachem Blick geprägt. Der dritte Themenkreis "Ingeborg Bachmann" ist der Versuch w.marins des bekennenden Bachmann-Bewunderers, über fotografische und malerische Mittel mit den Gedichten der österreichischen Lyrikerin in Dialog zu treten.

 

Vom Leben zwischen Kunst und Lehren

Wie ein roter Faden zieht sich das Balancieren und Ausloten unterschiedlicher Kunstformen durch w.marins Schaffen. Die Verbindung von Kunst und alltäglichem Leben. Wie passt da die Lehrtätigkeit ins Bild? Gibt es auch hier Parallelitäten? Findet sich auch in der pädagogischen Arbeit Leidenschaft? Dazu muss wohl erst die Frage geklärt werden, warum die Person w.marin bzw. Paul Adam von der Person des Lehrers so strikt getrennt wird, und zwar bis hin zur Nichtnennung des Namens. Es sei der Wunsch gewesen, nicht in Erklärungsnöte zu geraten – egal, auf welcher Seite. Warum man sich nicht für eine Schiene entscheiden, vielleicht besser auf nur eine Sache konzentrieren wolle. Denn wer ihn als Künstler kennt, traut ihm vielleicht die Lehrfähigkeiten nur eingeschränkt zu und umgekehrt. Ein bekanntes Phänomen bei KünstlerInnen, die auch in kunstfremden Tätigkeiten ihr Geld verdienen. Schließlich sind wir alle nicht ganz gegen Schubladendenken gefeit.

War die Lehrertätigkeit, die er bis 2020 ausübte, also nur Brötchenjob? Dazu wirft w.marin einen großen Begriff in den Ring– schließlich ist er Linguistiker. Vom "didaktischen Eros" spricht er, und von der Freude des "donner à voir", dem "sehen machen", und zwar ganz offensichtlich mit der gleichen Begeisterung, die ihn auch als Künstler auszeichnet. Die SchülerInnen der BOS in Miesbach seien meist nicht von vornherein mit Kunst und Literatur in Berührung gekommen. Die Freude, im Deutsch- oder Französischunterricht einen Funken überspringen zu lassen und bei manchen Interesse oder gar Leidenschaft für Sprache und Literatur zu erwecken, sei ihm immer besonders wertvoll gewesen. Alle könne man nie erreichen, aber die SchülerInnen haben ihm im Laufe der 25 Jahre seines Lehrerdaseins eine Menge zurückgegeben.

 

Und wie geht es w.marin als Miesbacher?

Sehr gut, er liebe diese kleine Stadt und das Umland. Die Sprache, die Leute, die Berge. Erneut bemüht er einen wunderbaren Begriff, diesmal aus dem Italienischen: "che strana belezza!" – welch ungeheure Schönheit dieser Landschaft! Eine weitere Brücke zwischen der Liebe zur Kulturgeschichte und dem alltäglichen Leben, denn für w.marin beschreibt er auch den Miesbacher Landstrich. Nach seiner Zeit in Augsburg sei er in Deutschland und Europa lange unterwegs gewesen, erzählt der Künstler, aber erst in Miesbach fühlte er sich angekommen. Da bleibt nur zu hoffen, dass der Wahlmiesbacher sich wenigstens künstlerisch nicht länger ganz so im Hintergrund hält.

 

Ausstellung "in der bilderbucht"
Kunstgalerie im Waitzinger Keller
12. Januar bis 10. Februar 2022

Weitere Informationen unter https://www.waitzinger-keller.de/programm

 

Text: Lisa Mayerhofer
Fotos: w.marin