Aufgeschlagenes Tagebuch, © Stadtarchiv Miesbach
Festzug der Fahnenweihe der Pioniere - Vereinigung Miesbach am 10.07.1923, © Stadtarchiv Miesbach

Anonymes Tagebuch – und es fand seinen Weg zurück

 … „Der herrliche Vorfrühlingstag lo(c)kte uns noch zu einem Spaziergange nach Parsberg, wo wir ein paar Eier erhamsterten u. die ersten Schlüsselblumen fanden!“


Schreibt unsere anonyme Schreiberin im März 1923, in Zeiten vieler Umbrüche und Nöte in ihr Tagebuch.

Und weiter: „1. April. Ein wenig blickt die Ostersonne durch, wenn sich auch das Aprilwetter geltend macht! Nach dem Gottesdienst auf den Friedhof! Dann unser Festmahl bereitet in: Butternockerlsuppe, Schweinsbraten mit Kartoffel u. Ronen [Rote Beete].“

Das Stadtarchiv Miesbach konnte vor kurzem das Tagebuch einer anonymen Schreiberin aus den 1920er Jahren von einem Tagebuch-Sammler aus Berlin erwerben. Wie uns der Herr berichtete, hatte er es vor rund 20 Jahren auf einem Flohmarkt in oder um Berlin erworben, so genau wusste er es nicht mehr.

Welche verschlungenen Wege mag wohl diese kleine Büchlein gegangen sein? Wer besaß es und für wen war es so bedeutend, es aufzubewahren und in Ehren zu halten? Tatsächlich kann man von einem großen Zufall sprechen, dass es rund 100 Jahre nach seiner Entstehungszeit nun wieder an seinen Ursprungsort zurückgekehrt ist.
 

Tagebücher als historisch-autobiografische Quelle

Tagebücher sind persönliche und manchmal zutiefst intime autobiografische Zeugnisse im Zeitenlauf; sie bergen Erinnerungen und schützen sie so vor dem Vergessen. Diese stillen und stummen Begleiter nehmen zum einen die geheimsten Gefühle und Empfindungen des Schreibers auf, und zum anderen berichten sie in chronologischer Reihung über Ereignisse, Aktivitäten, Beobachtungen und Gedanken. Vielleicht geben sie dadurch dem Schreiber ein Instrument an die Hand, eigene Lern- und Entwicklungsprozesse besser verstehen zu lernen.

Die Forschung bezeichnet sie als Selbstzeugnisse. Seit den 1980er Jahren greift die Alltags-, die Sozial- und die Mentalitätsgeschichte auch auf Spuren individueller Lebensgeschichten zurück und damit auch auf Tagebücher.
 

Wo findet man diese Selbstzeugnisse?

Grundsätzlich sind private Tagebücher kaum in kommunalen Archiven zu finden. Wer möchte schon gerne seine persönlichsten Erinnerungen mit der Öffentlichkeit teilen? Manchmal kommen sie über Nachlässe oder, wie in unserem Fall, über Ankauf in ein öffentliches Archiv. Sie ergänzen und bereichern durch ihre ureigene und individuelle Sicht der Dinge unsere Vorstellung einer vergangenen Epoche und ihren Blick auf das Alltägliche.
 

Stil und Form

Tagebücher sind keine einheitliche Textgattung, sie variieren im Stil und Form. Vieles hängt vom Schreiber ab, vom Talent und Sprachgeschick, von seiner Erfahrung aber auch von der Intention. Sicherlich fragt sich jeder Schreiber vorab: was möchte man dem Büchlein anvertrauen? Demnach kann ein Tagebuch im Stil präziser und knapper Einträge geführt werden oder künstlerisch gekonnte Kurzprosa bergen.

Meistens sind die regelmäßig geführten Aufzeichnungen chronologisch nach Jahr und Tag geordnet. Die Notizen können auch ganz plötzlich abbrechen – so wie in unserem Büchlein – und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen werden. Manchmal existiert auch eine große Lücke – viele leere unbeschriebene Blätter – die letztendlich nur eine kurze Erinnerungsspur des Schreibers setzt.
 

Das Tagebuch aus Miesbach

Dieses kleine Notizbüchlein ist allein schon in seiner Aufmachung ein interessantes Zeitdokument. Gerade mal 16 x 11,5 cm groß ist es auf eine feste und größere Pappe montiert; Büchlein und Pappe sind mit Buntpapier beklebt. Die Art und Struktur des Papiers gibt dem kundigen Betrachter bereits den Wink, dass es sich um die 1920er Jahre handeln muss. Am unteren Rand befindet sich ganz praktisch eine Halterung für einen schmalen Bleistift.
 

Und seine Schreiberin

Unsere anonyme Schreiberin „outet“ sich kein einziges Mal mit ihrem Namen. Einen Hinweis auf ihre Identität gibt sie uns doch, indem sie den 6. August 1923 als ihren 46. Geburtstag beiläufig anführt. Eine weitere indirekte Spur führt – zwar noch nicht zweifelsfrei – zu Maria Gillhuber (1877-1968), der Tante von unserem großen Miesbacher Wohltäter Anton Gillhuber. Des Weiteren nennt die Verfasserin in ihren Betrachtungen immer wieder Personen mit denen sie mehr oder weniger gesellschaftlichen Umgang pflegt und erwähnt ganz nebenbei Familien, die der damaligen gehobenen Bürgerschicht unseres Ortes angehören (z. B. Fräulein Gans von Wallenburg, Regierungsrat Bedall, Frau Direktor Fohr).
 

Blick ins Gesellschaftsleben

Prinzipiell folgt unsere Schreiberin der formalen Struktur eines Tagebuchs: Die Einträge beginnen mit dem Neujahrstag 1923. Sie schreibt in diesem Jahr kontinuierlich in ihr Büchlein. Mit ihrer feinen, kleinen Schrift, teilweise hastig hingeworfen, erzählt die geübte Schreiberin stichpunktartig, knapp und bündig von ihrem Alltag und ihren Aktivitäten. Beispielweise notiert sie ein „Schlittenrennen! Mit Frl. Fischer zugesehen! Einer hoch zu Roß! Vom Harzbergschlößl hatten wir einen schönen Überblick. Hierauf auf den Friedhof! Abends in das Wohltätigkeitskonzert zu Gunsten der Realschule!“

Aber auch von traurigen Ereignissen berichtet sie: „17. Jan. Heute trug man Herrn Pate Schiessl zu Grabe! Das rege Schneetreiben beeinträchtigte den imposanten Trauerzug mit den vielen Vereinen! … Mit ihm wurde wieder ein Stück ʿAlt-Miesbachʾ zu Grabe getragen.“
 

Die Zeit der großen Inflation

Daneben schildert sie immer wieder die schwierige Versorgungslage und die zugleich horrenden Preisen für Lebensmittel: „2. Februar 1923: Zahlte heute für das Pfund Ochsenfleisch 2.000 Mark. Eine Semmel kostet jetzt 50 Mark, 1 Lt. Milch 310 M und für 1 Pfund Mehl 1.000-1.200 Mark“, die im Herbst 1923 in die Hyperinflation mündet: „Die Teuerung macht mich ganz konfus. Ein Päckchen Zichorie 2 Milliarden, 1 Pfund Brod 600 Millionen.“
 

Fazit

Noch sind dem kleinen Büchlein nicht alle Geheimnisse entlockt, gibt es noch viele Leerstellen und Fragezeichen zu bearbeiten, doch fest steht, es ist ein besonderes historisches Dokument, das freilich nur bruchstückhaft – um 1923 – den Alltag in Miesbach einer Frau aus der Bürgerschicht dokumentiert. Die Quelle vermittelt uns persönliche Eindrücke in Zeiten tiefster Not und Versorgungsengpässen und macht damit Miesbacher Alltagsgeschichte nochmals anders erlebbar. Mögen die Schreiberin ganz andere Beweggründe zum Führen eines Tagebuchs geleitet haben, so gewährt sie uns heute einen vielfältigen Einblick in ihr alltägliches Leben und Empfinden.

Sollten Sie liebe Leser Zuhause ein Tagebuch aus alter Zeit besitzen, scheuen Sie sich nicht uns zu kontaktieren. Sehr gerne übernehmen wir diese einmalige Schriftquelle … !

Text: Barbara Wank
Fotos: Stadtarchiv Miesbach

Impressionen

Aufgeschlagenes Tagebuch, © Stadtarchiv Miesbach
Tagebuch

© Stadtarchiv Miesbach

Marktplatz 1920er Jahre, © Stadtarchiv Miesbach
Marktplatz 1920er Jahre

© Stadtarchiv Miesbach

Festzug der Fahnenweihe der Pioniere - Vereinigung Miesbach am 10.07.1923, © Stadtarchiv Miesbach
Fahnenweihe

© Stadtarchiv Miesbach

Stadtansicht Norden 1920er Jahre, © Stadtarchiv Miesbach
Stadtansicht Norden 1920er Jahre

© Stadtarchiv Miesbach