Unterführung Schützenstraße 1986, © Stadtarchiv Miesbach
Paul Fertl, © Verena Wolf

120 Jahre SPD in Miesbach – Paul Fertl im Gespräch

Wir, die wir in Miesbach leben, nützen die Straßen, Schulen, öffentlichen Einrichtungen der Stadt, treiben Sport, erfreuen uns an Kultur... Selten überlegen wir, wie das alles entstanden ist und wer sich dafür engagiert hat.

 

Ein Stück Miesbacher Geschichte

Ich sitze an diesem schönen Sommernachmittag im Garten von Paul Fertl. Er, der seit über vier Jahrzehnten das Gesicht der SPD in Miesbach mitprägt und dem selbst politische Gegner absolute Zuverlässigkeit bescheinigen, nimmt sich Zeit für ein persönliches Gespräch. Gerade erst wurde er für seine Verdienste geehrt: Am 18. Juli erhielt Paul Fertl aus der Hand von Bayerns Innen- und Kommunalminister Joachim Herrmann die Kommunale Verdienstmedaille in Silber. Nun schenkt er frisch gebrühten Kaffee ein. Er hat er sich gut vorbereitet und sogar einen Auszug aus dem Miesbacher Anzeiger von 1902 kopiert… Wir können daher nicht nur seinen bisherigen Lebensweg als erfolgreicher Kommunalpolitiker beleuchten und die Errungenschaften der beiden großen SPD-Bürgermeister Rudolf Pikola und Hans Schuhbeck streifen, sondern tief eintauchen in die Geschichte der SPD in Miesbach – ist der Name Fertl doch bereits mit der Gründung der Ortsgruppe der SPD verbunden.

 

Bewegte Jahrhundertwende

Es waren bewegte Zeiten, in die Großvater Josef Fertl am 22. Februar 1871 hineingeboren wurde. Während er zu einem feschen jungen Mann heranwuchs, Bierbrauer in der Waitzinger Kellerei wurde und seine Frau Anna kennenlernte, änderte sich die Welt rasant: Noch war ein Teil der alten Ordnung existent – so war etwa Elisabeth „Sissi“ noch bis 1898 Kaiserin von Österreich –, aber mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches (18. Januar 1871 in Versailles) hatte in Bayern König Ludwig II. einen Teil seiner Souveränität verloren, was den bayrischen Nationalstolz empfindlich traf. Zur Notwendigkeit, sich in dem neuen politischen System, in dem nun Preußen mit Kanzler Otto von Bismarck, den Ton angab, zurechtzufinden, gesellten sich als Folge der ins Schlingern geratenen Industrialisierung massive wirtschaftliche und soziale Probleme.

 

Niedergang des Bergwerks im 19.Jahrhunderts

Auch Miesbach schlitterte in schwere Zeiten. Hatten in den Jahren seit 1864, in denen Carl Fohr in Miesbach den Bergwerksbetrieb leitete, Wohlstand und Sicherheit geherrscht, so führte die geringer werdende Ausbeute an Kohle zu Lohnkürzungen und Entlassungen. Kein Wunder, dass sich Unruhe unter den Bergleuten ausbreitete, die sich vor allem in der Schützenstraße angesiedelt hatten. Und sie waren nicht alleine mit ihren Existenznöten: Schon Jahre vorher hatten sich in England, Frankreich und in Deutschland in den großen Industriezentren die verzweifelten Arbeiter zusammengeschlossen, um für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpften. Ihren Bestrebungen hatte Otto von Bismarck 1878 zunächst ein Ende gesetzt: In seinen so genannten Sozialistengesetzten wurde die Bewegungsfreiheit der ersten Sozialisten stark eingeschränkt. Das Gesetz blieb zwar „nur“ bis 1890 in Kraft, aber es hatte den berechtigten Anliegen und Forderungen der Arbeiterschaft einen negativen Stempel aufgedrückt. Sie galten fortan als Unruhestifter.

 

Im Juni 1902

Dennoch machten sich auch in Miesbach mutige Männer und Frauen daran, für Verbesserungen einzutreten und gründeten am 16.06.1902 die SPD in Miesbach – unter ihnen der damals 31 Jahre alte Josef Fertl, der sich gezielt engagierte: 1909 wurde er zum Magistratsrat gewählt. Alexander Langheiter berichtet: „Hier erwarb er [Josef Fertl] sich den Ruf eines einsichtigen und maßvollen Politikers und war auch beim politischen Gegner geschätzt“. Josef Fertl und ein weiteres SPD-Mitglied, Franz J. Doll, waren es auch, die sich beharrlich für die Erhebung Miesbachs zur Stadt einsetzen. Drei Jahre sollte es dauern, bis schließlich König Ludwig III. – wenige Wochen vor seinem Rücktritt – Miesbach im Mai 1918 zur Stadt erhob. Josef Fertl erlebte diesen Tag nicht mehr. Er war bereits 1916 verstorben und hatte seine Frau und fünf Kinder hinterlassen.

 

Paul Fertl im Gespräch

Bei dieser Vorgeschichte fällt es leicht, den Bogen zu dem Mann zu schlagen, der seit 1984 als Stadtrat und zudem fast zwei Jahrzehnte lang als zweiter Bürgermeister die Geschicke der Stadt beeinflusst hat und beeinflusst.

 

Verena Wolf (VWo): „Herr Fertl, Sie haben heute in Miesbach den Fraktionsvorsitz der Rathaus-SPD inne und sind nach langen Jahren als zweiter Bürgermeister von Miesbach nun als Stadtrat im Finanz- und Stadtentwicklungsausschuss tätig. Kann man sagen, dass die Stafette der SPD in Ihrer Familie vom Großvater auf Sie, den Enkel, übergegangen ist?“

Paul Fertl (P.F.): „Ja, das ist ganz richtig. Ich habe mich zeitlebens meinem Großvater innerlich nahegefühlt. Mein Großvater war ja nicht nur Magistratsrat in Miesbach. Er war zudem Mitglied im Bezirksbeirat der SPD, der für ganz Bayern zuständig war, und er hat auch das Vermögen der Vorstandschaft verwaltet.“

VWo: „Ihre Familie war immer politisch engagiert?“

P.F.: „Ja, engagiert oder interessiert. Mein Vater war nicht aktiv in der Politik. Er gehörte zur „heimatlosen Linken“ – ihm waren in seiner Zeit, also den 30er und 40er-Jahren, die Sozialisten zu kompromissbereit – die Kommunisten zu aggressiv.“

VWo: „Ihr Großvater war Bierbrauer, ebenso Ihr Vater. Sie haben einen ganz anderen beruflichen Weg gewählt und waren in großen Verlagen in München angestellt. Was hat Sie am Verlagswesen interessiert?“

P.F.: „Verlag – das ist ein Zweig des Bildungswesens und Bildung ist wie Kultur ein zentrales Anliegen in meinem Leben. Bildung und Veränderung – das geht Hand in Hand. Ich sage immer: „Ehe man etwas verändern kann, muss man erst begreifen, was ist. Dazu braucht es Bildung.“

 

Bildung als Antrieb

VWo: „Bildung war und ist auch ein zentrales Anliegen der SPD.“

P.F.: „Ja, Bildung und Soziales – das sind die Säulen.“

VWo: „Wie war der politische Anfang für Sie?“

P.F.: „Ich bin mit 17 Jahren als Mitglied in die SPD in Miesbach eingetreten – das war 1968.“

VWo: „Das war zur Zeit von Rudolf Pikola – kannten sie ihn persönlich?“

P.F.: „Ja, Pikola war Lehrer an der Volksschule, in die ich ging. Ich hatte ihn als Aushilfslehrer und weiß noch genau, dass er selbst, wenn er einfach nur dasaß, eine Persönlichkeit mit Charisma war. Hans Schuhbeck habe ich gut gekannt. Auch er war ja Lehrer, zuerst an der Volksschule, dann nach einer Weiterbildung Kunsterzieher an der Realschule in Miesbach. Als Pikola 1970 während seiner Amtszeit starb, haben wir auf Schuhbeck förmlich einreden müssen, damit er für das Amt kandidiert. Ich war damals noch bei den Jusos und habe mich ganz schön ins Zeug gelegt.“

Paul Fertl schmunzelt beim Gedanken an den eigenen jugendlichen Kampfgeist. Ich frage ihn, wie er die revolutionäre Zeit der 1960er Jahre erlebt hat und höre heraus, dass er keine großen Sympathien zu den studentischen 1968ern hatte, die eher in München aktiv waren.

P.F.: „Mich haben damals ganz andere Dinge bewegt. Ich wollte hier etwas bewegen und kann mich an hitzige Diskussionen in der Volkshochschule erinnern. Es war schon immer so, dass ich denke: Es gibt Dinge, da muss ich mich einmischen… Ich spreche dann auch eine klare Sprache. Trotzdem: Es ist mir wichtig, dass man im politischen Gegner immer den Menschen sieht, dass man sich wieder auf ein Bier zusammensetzen kann.“

VWo: „Wie ging es nach den Anfängen weiter?“

P.F.: „1972 mit 21 Jahren habe ich zum ersten Mal für den Stadtrat kandidiert. Das war mein erster Wahlkampf mit allem drum und dran – Plakate kleben, Infostände – das war eine spannende Sache für mich. Ja, und 1982 habe ich dann als bundesweit jüngster Kandidat sogar für den Bundestag kandidiert. In dieser Zeit, das war die Phase der Nachrüstungsdebatte, habe ich Willi Brandt und Helmut Schmidt kennengelernt.“

VWo: „Wie ging es anschließend weiter?“

P.F.: „In der Folgezeit habe ich mich weiter in der SPD engagiert. 1975 wurde ich im „zarten Alter“ von 24 Jahren stellvertretender Kreisvorsitzender – 1980 dann Unterbezirksvorsitzender der SPD, was dem damaligen Bundestagswahlkreis (Landkreise Miesbach, Wolfratshausen und Starnberg) entsprach. 1981 wurde ich dann Mitglied im südbayrischen Bezirksvorstand der SPD.“

 

Engagement für Miesbach

VWo: „Der Beruf, dazu eine große Familie – Sie und Ihre Frau Judith haben vier Kinder. Was war da an politischer Arbeit überhaupt noch „drin“?

P.F.: „Ich habe das große Glück, dass ich von Natur aus belastbar bin, auch wenn das jetzt etwas nachlässt (schmunzelt): Wenn ich früher acht Stunden geschlafen habe, konnte ich den Rest des Tages arbeiten, ohne dass mir das viel ausmacht – vor allem, wenn ich das, was ich tue so gerne tue, wie meine Arbeit für die Stadt.“

VWo: „Wie sah Ihr Leben in den mittleren Jahren aus?“

P.F.: „Beruflich war ich Vertriebschef eines in München ansässigen Fachverlages und sehr viel in der Welt unterwegs – das Verlagswesen ist ja per se international. In meinem Fall habe ich die Länder bereist, in denen der Verlag aktiv war, und habe Japan gesehen, China, Korea… Aber bis auf eine kurze Zeit – nachdem meine Frau Judith und ich 1980 geheiratet hatten, wohnten wir drei Jahre lang in Otterfing – habe ich tatsächlich immer in Miesbach gelebt. Ich bin 1984 zum ersten Mal in den Stadtrat gewählt worden. Bis 2002 hatte ich das Kulturressort inne: Zu Beginn habe ich mit Isabella Krobisch kleine Ausstellungen in der Bücherei organisiert – klein, damit die Schwellenangst, sich mit Kultur zu beschäftigen, nieder ist. Und vor allem habe ich den Kulturpreis ins Leben gerufen.“

Seitdem der Preis 1990 erstmals verliehen wurde – an den in Miesbach ansässigen Maler Josef Keller-Kühne – sind neun weitere Persönlichkeiten mit dem Preis geehrt worden – zuletzt Sängerin Elisabeth Neuhäusler (2016) und Musikerin Andrea Wehrmann (2019).

VWo: „Bis 1996 waren Sie als Stadtrat das Kulturessort geprägt. Was kam dann?“

P.F.: „2002 habe ich für das Bürgermeisteramt kandidiert, wurde aber Zweiter Bürgermeister und das gleich mehrmals, von 2002 bis 2020, also mit den ersten Bürgermeistern Dr. Gerhard Maier und Ingrid Pongratz.“

Als ich sage: „Sie haben seit 1984 ungezählte Stunden für die Stadt gearbeitet…“, zückt Paul Fertl ein Blatt und reicht es mir. Staunend sehe ich, dass die Stunden gezählt sind. Es gibt eine Statistik, die auflistet, dass ein Stadtrat, der 30 Jahre im Amt war, an 900 Sitzungen teilgenommen hat – was 3.060 Arbeitsstunden entspricht. Und das ist die reine Sitzungszeit – Vor- und Nachbereitung und alles Planen und Denken und Verhandeln und Netzwerken ausgenommen! Wobei man noch mitbedenken muss, dass Stadtrat ein Ehrenamt ist…

VWo: „Wenn Sie an all die viele Arbeit zurückdenken – was werten Sie spontan als Ihre größte Leistung für Miesbach?“

Paul Fertl muss nicht eine Sekunde nachdenken. Er sagt: „Das war mein Kampf für das Kulturzentrum Waitzinger Keller. Es bestanden ja massive Schwierigkeiten, die ich hier nicht alle aufzählen will. Aber der Einsatz hat sich gelohnt. Heute ist der Waitzinger Keller einzigartig im ganzen Landkreis.“

VWo: „Wie stehen Sie heute zur SPD?“

P.F.: „Sie ist für mich die älteste demokratische Partei. Hier in Miesbach war sie auch die erste Partei, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg schon 1945 wieder gegründet hat – mit 20 Mitgliedern im Ortsverein, unter ihnen immerhin schon drei Frauen. Die SPD konnte in Miesbach immer ein Stück Sozialpolitik Wirklichkeit werden zu lassen.“

 

Mit der SPD in die Neuzeit

Diese Sozialpolitik hat in Miesbach sichtbare Spuren hinterlassen – wobei vor allem der engagierte Soziale Wohnungsbau große Erleichterungen brachte und infrastrukturell wie architektonisch moderne Akzente in der Stadt setzte. Auch wenn hier nicht alle weiteren Errungenschaften ausführlich gewürdigt werden können, soll doch erinnert sein an die bedeutenden Errungenschaften der beiden großen SPD-Bürgermeister Rudolf Pikola (1960-1970) und Hans Schuhbeck (1970-1990), die unserer Stadt ihr modernes Gesicht gaben: Ganze Stadtviertel wurden neu errichtet wie die Umgestaltung der Riviera, der Ausbau der Infrastruktur im ganzen Stadtgebiet, die Gebietsreform (Eingemeindung von Wies und Parsberg), der Bau des AWO Seniorenzentrums, die Errichtung der Stadtbücherei, die Sanierung der Eishalle, der Bau des Feuerwehrgerätehauses mit Heimatmuseum, Umgestaltung der Schulgebäude, der Hochwasserschutz, die Kläranlage uvm.

Untrennbar sind diese Errungenschaften mit den vielen engagierten SPD-Mitgliedern verbunden, die in dieser Zeit die Politik „ihrer“ Bürgermeister stützen. Stellvertretend sei nur erinnert an Mathilde Nachbar, die 1960 als erste Frau in den Stadtrat gewählt wurde und dann von 1966-1972 dritte Bürgermeisterin war.

 

Wer mehr über die Strukturen und Persönlichkeiten der SPD in Stadt und Landkreis Miesbach wissen will oder wer sich für die aktuellen Aktivitäten interessiert, informiert sich unter www.spd-miesbach.de oder nimmt Kontakt auf zur stellvertretenden Vorsitzenden und Pressesprecherin Lisa Hilbich unter kontakt@spd-miesbach.de

 

Text: Verena Wolf
Fotos: Stadtarchiv, Verena Wolf, SPD

Foto Gesamtvorstand: Hinten: Leon Walther, Tom Schneider, Andreas Kempf, Thomas Acher sowie die Stadträte Florian Perkmann und Hedi Schmid

Vorne: Lisa Hilbich, Bernhard Altmann, Astrid Schneider.

Nicht auf dem Foto sind Pau Fertl, Inge Jooß und Hermann Kraus, die ebenfalls dem Vorstand angehören. © SPD/foto-al.de

Impressionen

Telegramm Stadterhebung 1918, © Stadtarchiv Miesbach
Telegramm Stadterhebung 1918

© Stadtarchiv Miesbach

Ausbau des Miesbachs in der Riviera 1981, © Stadtarchiv Miesbach
Ausbau des Miesbachs in der Riviera 1981

© Stadtarchiv Miesbach

Willy Brandt 10.08.1965, © Stadtarchiv Miesbach
Willy Brandt 10.08.1965

© Stadtarchiv Miesbach

Unterführung Schützenstraße 1986, © Stadtarchiv Miesbach
Unterführung Schützenstraße 1986

© Stadtarchiv Miesbach

Geschoßinstandsetzung Fa. Reinhardt 1918, © Stadtarchiv Miesbach
Geschoßinstandsetzung Fa. Reinhardt 1918

© Stadtarchiv Miesbach

Paul Fertl, © Verena Wolf
Paul Fertl

© Verena Wolf

SPD Vorstand, © SPD
SPD Vorstand

© SPD