In den vergangenen Tagen hat unser Kulturamt eines der interessantesten Projekte des Jahres gestartet: Für die Ausstellung „Vom Kommen und Gehen“ entstehen zum ersten Mal Videos, die besondere Lebensgeschichten für die Nachwelt festhalten.
Gegen das Vergessen
Es ist ganz still auf der Galerie Ost des Waitzinger Kellers. Nur das leise Sirren der Kamera ist zu hören, als die junge Frau erzählt, wie sie den Angriff der russischen Raketen auf ihre ukrainische Heimatstadt Cherson erlebt hat.
Solche und ähnliche Momente sind es, die alle Interviews, die anlässlich der Ausstellung „Vom Kommen und Gehen“ entstehen, unvergesslich machen. Und genau das ist das Ziel der Aktion: Die Lebensgeschichten, die mit der Kamera aufgezeichnet werden, sollen im Stadtarchiv aufbewahrt werden, damit diese Erinnerungen der Nachwelt für immer erhalten bleiben.
Kunst und Leben
Denn es ist das Stichwort „Erinnerung“, das dem Schaffen der Künstlerin Siglinde Berndt seine besondere Bedeutung gibt. So hatte sie mitten in der Coronazeit ein anderes Projekt gestartet, das eine wichtige Erinnerung unseres Jahrzehnts bewahrt – den Schrecken der Corona-Pandemie: Jeden Morgen hat die in Raubling geborene, im Chiemgau lebende Künstlerin die Todesanzeigen in der Tageszeitung gelesen und für jeden Verstorbenen ein Schiffchen aus Papier gefaltet, auf das sie seinen Namen geschrieben hat. Eine beeindruckende Flotte ist so entstanden, die in Miesbach ab Dienstag, 10. Oktober bis Sonntag, 15. Oktober 2023 im Rahmen der Hospizwoche in der Portiunkulakirche zu sehen sein wird.
Eine besondere Ausstellung
Doch wer die Arbeit dieser den Menschen so sehr zugewandten Künstlerin kennenlernen möchte, hat schon ab Montag, 25. September Gelegenheit dazu. Ihre Ausstellung „Vom Kommen und Gehen“, die im Waitzinger Keller gezeigt wird, hat die Lebensreise von uns Menschen zum Thema.
Oft sind es Bleistiftporträts, Reiseandenken und Ähnliches die Kristallisationspunkte, aus denen die Künstlerin ihre Objekte entwickelt: Die Lebensreise, das Kommen und Gehen fasziniert sie.
Begleitend zu den Objekten der Künstlerin werden die Videos gezeigt, für die Inge Jooß, die städtische Integrationsbeauftragte, und Lisa Braun-Schindler vom Netzwerk Integration zwölf Personen ausgewählt haben, die in den vergangen dreißig Jahren aus den unterschiedlichsten Gründen nach Miesbach gekommen sind.
Sehenswert!
Bringt schon jedes „normale“ Leben viele Veränderungen, Herausforderungen, Brüche, Umzug und Neuanfang mit sich, so hält das Dasein doch für machen Menschen besonders schwerwiegende Erfahrungen bereit: Wenn Gastarbeiter, Aussiedler und Flüchtlinge von dem erzählen, was sie erlebt haben, erhält das Wort vom „Kommen und Gehen“ noch einmal eine ganz andere Dimension.
Vom Gehen
Einige sind aus weit entfernten Ländern wie Äthiopien, Nigeria, Afghanistan oder Vietnam gekommen. Andere haben ihre Heimat in Europa oder Kleinasien verlassen. Freiwillig ist fast niemand gegangen.
Auch wenn es nicht für jeden eine Frage von Leben und Tod war – so gab es doch jede und jeden einzelnen einen guten Grund zu gehen. Und so berichten sie von Krieg, Armut, politischer Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität und Unterdrückung… Und sie erzählen von ihrer Angst: Um das eigene Leben, um die Familie, um das Volk, die Nation… Und sie berichten vom Schmerz der Trennung von Familie und Freunden, vom vertrauten Dasein, von allem, was sie sich in der alten Heimat aufgebaut hatten, von den Träumen, die begraben werden mussten.
Vom Ankommen
Das wichtigste Vermächtnis der Interviews aber ist vielleicht das andere – die Hoffnung, der Glaube und die Kraft, die sie uns Menschen geben. Alle, die sich zu einem Interview bereit erklärt haben, haben nie die Hoffnung auf das Bessere aufgeben – ob auf der Flucht durch Wüste und über Meer, ob auf der beschwerlichen Reise in ein Land, dessen Sprache, Kultur, Religion, Sitten und Gebräuche sie nicht kannten – immer hat sie die Hoffnung aufrecht gehalten, dass sie es hier schaffen können.
Und so ist es eine Freude und eine Beruhigung zu hören, dass alle hier angenommen wurden, dass sie Hilfe erhielten und den Neuanfang geschafft haben. Viele haben Gutes erlebt, und es ist unvergessen, was der Helferkreis und Einzelne getan haben!
Geben und Nehmen
Die Sprache zu lernen, Arbeit finden, ein neues Zuhause aufbauen, das ist allen gelungen. Und es fällt auf, dass viele sagen: „Ich wollte etwas zurückgeben.“ Und so sollten wir alle einmal genau hinsehen, wer uns im Krankenhaus mit einem freundlichen Lächeln versorgt, wer sich im Altenheim um Opa und Opa kümmert, wer unsere Kinder behütet, wer ein Ehrenamt übernimmt…
Freuen wir uns also über jeden, der zu uns kommt und sich mit aller Kraft und all seinen Fähigkeiten einbringt. So ganz nebenbei ist es auch Nachdenkenswert, warum Deutschland für viele ein Wunschziel ist: Es sind die Sicherheit, die Chancen, die Schulausbildung, die Gesundheitsvorsoge und vor allem die große persönliche Freiheit, die frühere Generationen aufgebaut haben. Wir sollten uns dieses Erreichte immer wieder einmal bewusst machen und es als wertvollste Basis unserer Demokratie schätzen und im Miteinander weiterentwickeln.