Miesbacher Anzeiger vom 17. Juli 1920 mit dem Artikel „Antisemitisches“ von Ludwig Thoma, © Heimatmuseum Miesbach
Dr. Richard Gans, © Heimatmuseum Miesbach

Jüdisches Leben in Miesbach

Jüdisches Leben in Miesbach

 

Kaum jemand weiß, wie wichtig die Rolle ist, die jüdische Menschen in unserer Stadt gespielt haben: Als Kaufleute und Gutsbesitzer, Finanziers, Denker und Dichter haben sie ihre Spuren in Miesbach hinterlassen.

 

Ein willkommener Anlass

1.700 Jahre ist es her, dass der erste jüdische Bürger in Köln erwähnt wird. Die lange Geschichte wird 2021 mit einem Festjahr gefeiert. „Das Festjahr ist Anlass genug, sich auch in Miesbach nach Spuren jüdischer Bürger umzusehen“, sagt der Miesbacher Stadthistoriker Alexander Langheiter, der in jüngster Zeit zur jüdischen Geschichte in Miesbach recherchiert hat. Schon während der Arbeit an seiner „Miesbacher Chronik“ war ihm aufgefallen, dass es auch in Miesbach jüdische Familien gab, die entscheidend zur Entwicklung unserer Stadt beigetragen haben. „Gefunden habe ich in Miesbach Hinweise auf das Leben einzelner Männer und Frauen, die ihre Wurzeln in jüdischen Familien hatten. Es sind aber alles Einzelspuren“, berichtet unser engagierter Museumskustos über seine Forschungsarbeit, „eine regelrechte jüdische Gemeinde oder gar eine Synagoge hat es in Miesbach nicht gegeben.“ „In München war im Mittelalter eine blühende jüdische Gemeinde entstanden, aber 1442 wurden alle Juden aus München und Oberbayern auf Befehl Herzog Albrechts III. vertrieben“, weiß Alexander Langheiter. „Erst im 18. Jahrhundert arbeiten wieder jüdische Kaufleute in München. Viele der in Miesbach im 19. und 20. Jahrhundert tätigen jüdischen Familien sind tatsächlich auch aus München gekommen.

 

Mit Davidstern und Lederhose

Aus München kamen 2020 auch die Mitarbeiter eines besonders für Bayern interessanten Teams jüdischer Initiatoren: Die EUROPÄISCHE JANUSZ KORCZAK AKADEMIE widmet sich dem Austausch deutscher und jüdischer Lebensweisen. Für ihr bayernbezogenes Projekt „Mit Davidstern und Lederhose“ hatten sie als Ausstellungsort auch Miesbach ausgewählt, das sie während einer Stadtführung mit Alexander Langheiter besser kennenlernten.  „Ich war unendlich froh, dass ich den Teilnehmern der EJKA sagen konnte, dass es hier in Miesbach keine Verfolgung gegeben hat“, erzählt Alexander Langheiter.

 

Der Miesbacher Anzeiger und Ungerechtigkeit

Auch wenn in Miesbach, soweit wir heute wissen, kein jüdischer Mitbürger deportiert wurde, so werfen die Artikel im Miesbacher Anzeiger ein Licht auf die gefährlich-negative Atmosphäre, die auch Miesbach Anhänger gefunden hatte: Das damals von Klaus Eck geleitete Blatt veröffentlichte antisemitische und antidemokratische Artikel, hinter denen als Autoren Dietrich Eckart, Bernhard Stempfle und – besonders traurig – Ludwig Thoma standen, der unter Pseudonym schrieb.

„Umso tröstlicher ist der Umstand, dass gerade in Miesbach jüdische Menschen in der NS-Zeit nicht so Furchtbares erleben mussten wie anderswo“, berichtet Alexander Langheiter. Er hat auch entdeckt, dass es sogar positive Beispiele von Mut während der Verfolgung gab: Karl Schörghofer und seine Tochter Martha Schleipfer retteten mehreren jüdischen Menschen das Leben. Die bestürzenden Ereignisse während der 30er und 40er Jahre haben auch in Miesbach in vielen Leben Spuren hinterlassen.

 

Kaufmannsdynastie Sundheimer

Den meisten Miesbachern dürfte die Familie Sundheimer noch in bester Erinnerung sein. Paul Sundheimer, der 1899 geboren worden war und 1997 verstarb und in Gmund beigesetzt ist, war der Erbe der Kaufhäuser, die sein Vater Sigmund Sundheimer (1850-1926), in München, Miesbach und Gmund gegründet hatte. Er promovierte in Volkswirtschaft, um die Nachfolge des Vaters anzutreten, als er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Kurz vor Kriegsende verlor er ein Bein und geriet in Gefangenschaft. Erst 1919 konnte er nach Deutschland zurückkehren und einige Jahre später die Firma übernehmen, deren Hauptsitz bereits in Miesbach war. Seit 1933 musste er dann als „Halbjude“ um den Bestand von Firma und Familie kämpfen: Nachdem das Kaufhaus in Miesbach von der örtlichen SA geschlossen worden war, konnte er es nur dank zäher Verhandlungen wiedereröffnen – allerdings unter dem Namen „Helbig & Co.“ Erst 1945 durfte das Kaufhaus wieder den Namen der Familie tragen. 1970 übergab Paul Sundheimer die Firma an seinen in der Stadt ebenfalls hoch angesehenen Sohn Fritz, der das Kaufhaus bis 2002 führte. Paul Sundheimer engagierte sich nach Kriegsende aktiv für das kulturelle Leben der Stadt, hielt Vorträge an der Volkshochschule und arbeitete mit historischen Artikeln über die Situation deutscher Juden durch die Geschichte am Verständnis zwischen Juden und Christen.

 

Gutsbesitzer

Dr. Richard Gans (1880-1943), Sohn des legendär reichen Industriellen Leo Gans, fand nach einem Jurastudium und einer Zeit als Maler auf Schloss Wallenburg seine Erfüllung. In seiner Chronik beschreibt Alexander Langheiter dessen Leben: Schon kurz nach dem Kauf 1919 begann Richard Gans mit tiefgreifenden Maßnahmen, die das heruntergewirtschaftete Anwesen schnell wieder rentabel machten. Er engagierte sich im sozialen und wirtschaftlichen Leben der Stadt, ließ das Schloss erneuern und machte sich als Wohltäter einen Namen. „Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich das Leben für Richard Gans schlagartig. Nach den Gesetzen der neuen Machthaber als Jude eingestuft, war er zunehmender Diskriminierung ausgesetzt. Besonders Gauleiter Giesler drängte mit allen Mitteln darauf, den wunderschönen Besitz in seine Hände zu bekommen. Er ließ Richard Gans 1943 in das Lager Milbertshofen einliefern, von dem aus die Transporte in die Vernichtungslager erfolgten. Damit erzwang Giesler den Zwangsverkauf Wallenburgs. Richard Gans kam dadurch zwar wieder frei, starb aber kurz danach unter Hausarrest. Erst seine Tochter Beate, durch Heirat Beate von Kameke, erhielt das Gut zurück und rettete es vor dem Verfall. Heute leitet ihr Sohn Kartz von Kameke den Betrieb.

Auch die alte Hofstelle Voglsang war jahrelang das Zuhause einer Familie mit jüdischen Wurzeln: In den 1930er Jahren zog der Bankier Paul von Mendelssohn-Bartholdy (1875-1935) auf den versteckten Hof in der Oberen Wies. Paul von Mendelssohn-Bartholdy stammte aus der Familie des gleichnamigen Komponisten, die zum Protestantismus konvertiert war. Nach dem Tod ihres Mannes 1935, kam seine Frau Elsa als Nicht-Jüdin in den Genuss des stolzen Erbes und der Kunstsammlung der Familie Mendelssohn-Bartholdy – welches sie, entgegen gegebener Versprechen, zum großen Teil verkaufte.

 

In der Sommerfrische

Ein entfernter Verwandter des Paul von Mendelssohn-Bartholdy war der Nobelpreisträger Paul Heyse (1830-1914). Heyse, der zu seiner Zeit einer der berühmtesten Schriftsteller Deutschlands und eng mit dem bayrischen Königshaus verbunden war, verbrachte in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts viele Sommer mit Frau und Kindern in der Villa Kammerer in Miesbach (-> Stadtgeschichte “Wiederentdeckung eines Nobelpreisträgers“).

Zu den „Sommerfrischlern“ gehörte auch Theodor Stiglitz, ein Wiener „Rentier“, dem es in der Stadt so gut gefiel, dass er hier für 10 Jahre seinen Wohnsitz nahm. Er lebte von 1909 bis 1919 in der Villa des Bergwerkdirektors Carl Fohr, während der preisgekrönte jüdische Bildhauer Salomon Simon die Sommerfrische in einem Privathaushalt verbrachte.

 

Karl Freiherr von Eichthal

Unter den Münchner Adligen, die im 19. Jahrhundert in Miesbach die Sommerfrische verbrachten, sticht ein Mann heraus, dessen Rolle für die Glanzzeit unserer Stadt gar nicht genug gewürdigt werden kann: Karl Freiherr von Eichthal (1813-1880) war im wahrsten Sinn des Wortes „steinreich“. Geboren als Carl Seligmann, war er in dritter Generation königlich-bayerischer Hofbankier und Kämmerer in München. Vor allem aber war ein herausragend tüchtiger Unternehmer jüdischer Herkunft. Von Haus aus begütert, hatte er eine reiche Erbin geheiratet und die Zeichen der Zeit erkannt. Er war Inhaber der Zeche Penzberg, hatte mit zwei weiteren Investoren (Rothschild, von Fröhlich) die Eisenbahn gebaut, die ganz Ostbayern erschloss, und urbanisierte zwei in seinem Besitz befindliche Münchner Stadtteile, das spätere Gärtnerplatzviertel und das Franzosenviertel in Haidhausen.

Er war Anteilseigner der Oberbayrischen Aktiengesellschaft für Bergbau mit Sitz in Miesbach und damit einer der Männer, die die Erschließung des Kohlebergbaus in Miesbach einleiteten. Er starb bei einem Urlaubsaufenthalt im Hotel Waitzinger.
Zwei weitere Münchner Finanziers jüdischer Herkunft halfen dem jungen Bergbau in Miesbach auf die Beine: Ludwig Freiherr von Haber-Linsberg (1804-1892) und Sigmund von Henle (1821-1901).

 

Von der Frauenschule in die USA

Die Miesbacher Frauenschule war bei ihrer Gründung 1908 eine hochmoderne Institution, in der Töchter aus den höheren Kreisen all das lernten, was sie zur Führung großer Häuser prädestinierte – Hauswirtschaft, Gartenbau und Landwirtschaft. Eine der erstaunlichsten Schülerinnen war Elsbeth Kaulla (1902-1993), eine direkte Nachfahrin von Karoline Kaulla, geborene Raphael (1739-1809), die einst als die reichste Frau im Deutschen Reich galt. Die Position verdankte Karoline Kaulla eigener Leistung: Sie hatte 1802 in Stuttgart das erste Bankhaus gegründet, das schnell zur Hofbank der württembergischen Könige aufstieg. Die Familie wurde in Stuttgart in höchsten Ehren gehalten und geadelt. Elsbeth Kaulla, eine Urur-Enkelin, heiratete später Fritz Ernst Oppenheimer (1898-1968), den sie in die USA begleitete, wo er am Ende seiner beispiellosen beruflichen Laufbahn als Rechtsberater des US-amerikanischen Außenministeriums arbeitete.

 

Publizisten, Rechtsanwälte und Ärzte

Und wer hätte gedacht, dass es ein jüdischer Rechtsanwalt aus München war, der im Aufsehen erregenden Prozess gegen die Haberer die Seite der Angeklagten vertrat? Max Bernstein (1854-1925) übernahm die Verteidigung der Männer, die in Folge der sogenannten Habererschlacht anno 1893 in Miesbach in Gefangenschaft geraten waren. Doch auch Bernsteins beherztes Eintreten für die Angeklagten konnte die harten Strafen nicht verhindern, weil die Behörden den Haberern als „Volksgericht“ ein Ende setzen wollten.

Das Schicksal von Julius Reiner (1871-1929/30), der zwei Jahre in Miesbach lebte, weist dagegen schon auf die drohende Verfolgung hin. Über den in Krakau geborenen jüdischen Publizisten schreibt Alexander Langheiter: „Reiner schuf vornehmlich Werke zu den Themen Religionen und Philosophie. […] Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er für die Münchener „Allgemeine Zeitung“. Im Januar 1918 zog er nach Miesbach. Im Nachklang der bayrischen Räteregierung wurde Julius Reiner im Mai 1920 ohne triftigen Grund nach Österreich ausgewiesen.“

Noch so manches weitere Schicksal hat Alexander Langheiter entdeckt. Das Ergebnis kann man bald, als Text und Bild, in einer kleinen Wanderausstellung erleben.

 

EMPFEHLUNG ZUM WEITERLESEN:

  • Festjahr: 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland (bundesregierung.de)
  • Mit Davidstern und Lederhose – Jüdische G'schichtn on Tour | Europäische Janusz Korczak Akademie e.V. (ejka.org)
  • Paul Sundheimer, „Aus der Geschichte(,) dem sozialen und kulturellen Leben der Juden in Deutschland – I. Bayern – Zur Geschichte“ in: „Menorah“, 1928, Heft 11-12 (November), S. 651ff. Geschichte der Juden in Bayern: Eine historische Skizze von Dr. Paul Sundheimer (1928) - haGalil
  • Stadtgeschichte: https://www.miesbach-tourismus.de/wiederentdeckung-eines-nobelpreistraegers

 

Text: Verena Wolf mit Ausschnitten aus Alexander Langheiter : „Jüdische Spuren in Miesbach“, Miesbach 2020 und Alexander Langheiter: „900 Jahre Miesbach“, Miesbach 2013
Fotos: Heimatmuseum Miesbach


 

Impressionen

Stadt Miesbach, © Dietmar Denger
Stadt Miesbach

© Dietmar Denger

Stadtführungen_Drohnenaufnahme Miesbach_1920x1280
Stadtführungen_Drohnenaufnahme Miesbach_1920x1280
Miesbacher Tracht_Titel_Stadtplatz
Miesbacher Tracht_Titel_Stadtplatz
Genussführung_Sonja_Still (2)
Genussführung_Sonja_Still (2)
MB_Wochenmarkt-0081_1920x1280
MB_Wochenmarkt-0081_1920x1280